HOMO LUDENS
Bibliothek - Wissenschaftlicher Hintergrund

 

 

Vom Ursprung der Kultur im Spiel
Das moderne Spielverständnis ist nicht denkbar ohne Johan Huizinga. Im Spätwerk dieses berühmten Mittelalter-Forschers, dem ‘homo ludens’, wird die zentrale These vertreten, dass Kultur als Spiel entstand (Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 1938, deutsche Ausgaben ab 1939; zahlreiche Übersetzungen). Spielen und Spiele sind laut Huizinga weit mehr als Zeitvertreib oder ‘Kinderei’; er skizziert eindrucksvoll die Entfaltung aller Kulturleistungen, so der Dichtung, des Rechts, der Musik, des Tanzes, sogar der Kriegsführung, in agonalem Wettstreit. Er liefert die gedankliche Grundlage für das moderne, um positive Würdigung bemühte Verständnis von Spiel. Spiel ist Kulturerbe der Menschheit.


Johan Huizinga
1872-1945

Vom Verlust des ‘Spielelements’ in komplexen Gesellschaften
Huizinga verstärkte die neuere, insbesondere in der Pädagogik geforderte Aufwertung alles Spielerischen. Nach wie vor nicht überwunden ist aber die ‘moralisch’ begründete Abwertung spontaner-spielerischer, auch körperlicher Handlungen. Eine Geisteshaltung, die in allen zentralistisch bzw. monotheistisch geprägten Gesellschaften vorherrschte bzw. andauert. Im antiken Rom galt Spiel ('ludus') als unernst, flatterhaft, lasterhaft, schädlich. Im Mittelalter erschien Spiel der Kirche als Sünde, die Epoche war geprägt von Spiel- und Tanzverboten (was nicht heisst, dass der Klerus selbst intensiv spielte...). Der Koran kennt eine Vielzahl von Spielverboten. Im abendländischen Kulturverständnis werden Ernst und Spiel (fälschlich) als Gegensatz begriffen (vgl. hierzu: Eichler, Spiel und Arbeit, Stuttgart 1979).

P. Nicolai Cusani: Christliche Zuchtschul, Lucern 1645

Auch moderne Industriegesellschaften neigen, so kritisiert Huizinga, zur Verdrängung spielerisch-schöpferischer Vielfalt. Kulturelle Institutionen würden ihre (spielerische) Flexibilität, damit Gestaltungskraft und Entwicklungsfähigkeit verlieren. Das Spielelement gehe in modernen, erstarrten Institutionen verloren. Es gelte, Spiel wieder zuzulassen, Kulturleistungen neu zu entfalten, mit kreativ-spielerischem Querdenken und fruchtbarem Wettstreit.

Vom Versäumnis der Forschung
Es ist bis heute kaum bekannt, dass alle Völker intensiv spielten und spielen, in allen Lebensbereichen - im ‘Alltag’, der Arbeit, der Gemeinschaft, dem zeremoniellen und kultischen (auch: religiösen) Leben. Spieldrang, Wettstreit, Spielfreude in der Gemeinschaft, spielerisch-zeremonielle Handlungen und ‘Spielkulte’ sind Wesensmerkmale aller frühen Weltkulturen. Diesem Verständnis folgend, wäre Kulturgeschichte auch immer Geschichte der Spielformen, der Spiel-Kultur.

Weltweit müsste das Thema ‘Kulturgeschichte des Spiels’ in Forschung, Lehre und öffentlicher Diskussion präsent sein - aber weit gefehlt! Selbst in der Ethnographie, deren Aufgabe die Beschreibung indigener Kulturen ist, bleibt Spiel in der Regel ein Nebenthema.

Es gibt nach unseren Recherchen keine global orientierte Dokumentationsstelle der Vielfalt der Spielformen der Völker. Auch kein Netz von regionalen Initiativen, sondern nur vereinzelte Initiativen (so um den amerikanischen Spiel-Anthropologen Sutton-Smith). Es gibt auch keine global orientierte Monographie zur Kulturgeschichte des Spiels; selbst Monographien über die Spielkultur einer Ethnie / eines Kulturkreises sind die Ausnahme. Es ist uns auch kein Schwerpunkt-Forschungsprogramm in diesem Bereich mit globaler Bedeutung bekannt.

Von der Erforschung weltweiter Spielkultur...
Wir stehen vor der Aufgabe, Spiel als kulturbildendes Prinzip in den Kulturleistungen aller Völker entdecken und erkunden zu sollen - ein Vorhaben, das in seiner Komplexität und Weite internationale Kooperation erfordert. Diese muss erst entstehen.

Ein spontaner Einstieg ist aber möglich: Man kann mit einer Sammlung / Dokumentation der ‘Oberfläche von Spielkultur’ beginnen, dem Zusammentragen der konkreten ‘Spiele’ der Kulturen. Hier gibt es weltweit Zeugnisse, insb. Zeitschriftenaufsätze und Passagen in landeskundlich orientierten Monographien, aber auch Bildmaterial und Erzählungen.

Konkrete erste Aufgabe ist die Dokumentation der Spielformen in Kindheit und ‘Jugend’ / Initiationsphase. Kinderspiele und Initiationsriten bilden Erwachsenenkultur ab, als Spiel- und Lebensform, sind selbst von Kindern an Kinder weitergegebene Kultur, und dieses weltweit.

Wir wissen immer noch wenig von kindlich-spielerischer Eroberung der Welt, von Kinder-Spielkulturen, von der Identitätsbildung des Kindes in der (subjektiven) Ernstsituation Spiel, von der Vielfalt und den Entwicklungsebenen kindlichen Spiels, von spielerischer Eroberung und Gestaltung der Bewegung, von der gemeinschaftsbildenden Kraft ‘spielerischer’ Wettkämpfe, von der Gefährdung bzw. dem Abbruch des Spielens in Industriegesellschaften, von der Technisierung des Spielzeugs, von der Spielferne schulischer Erziehung...

Konkrete zweite Aufgabe ist die Dokumentation von Spielformen der ‘Erwachsenen’ - privat, in Arbeit, Fest, Tanz, zeremoniellen und kultischen Handlungen. Was wissen wir eigentlich über die kulturelle Vielfalt der Spiele in Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, zu Jahreszeiten und Festtagen, über Spielelemente in der Arbeit, ihre rhythmischen Traditionen, über Arbeitsgesänge, vom Spielelement in der motivierten Arbeit, vom modernen Rhythmus zwischen Arbeit und Privatheit, von der sinnstiftenden Rolle spielerischer Zeremonien und spielerisch verkleideter kultischer Akte - begonnen bei den fast immer religiös verkleideten festlichen Höhepunkten des Gemeinschaftslebens der Völker bis hin zu modernen, rituellen Handlungen mit Kultcharakter - Event genannt...

Hier tritt man ein in die tiefere, die Herausbildung kultureller Institutionen nachvollziehenden Analyse. Schon die Sprache offenbart, welche Aufgaben hier schlummern: In fast allen Lebensbereichen benennen wir ein Spielelement, ohne es genauer zu würdigen. So bei Sportspielen (sind sie, insbesondere als Hochleistungssport, Spiel - welches Spiel?), Olympischen Spielen (was ist Spiel, was sinnstiftender Kultus, was ist starre Struktur?), Planspielen (insb. im militärischen Bereich), globalen Spielen - ‘global players’... Immer war Spiel konstitutives Element der Herausbildung kultureller Praktiken / Institutionen. Eine Analyse der Art, der Funktion, des Anteils und der Wandlung des Spielelements in der Kulturentfaltung steht aus.

...zur Förderung des Spielelements in der Kulturentwicklung
Auch wenn diese tiefere Würdigung von Spiel, begonnen bei einer Sprachanalyse, vorerst Programm bleiben muss, spricht das nicht gegen den pragmatischen Einstieg: Die mehr beschreibende Dokumentation der Vielfalt der ‘Spiele’ der Völker ist eine längst überfällige kulturwissenschaftliche Aufgabe. Hier ist ein weisser Fleck auf der Landkarte der Weltkulturen. In der Bibliothek HOMO LUDENS wurde mit dem Zusammentragen der (Sekundär-)Quellen begonnen.

Die Arbeiten führten zu einem überraschenden Ergebnis. Entgegen der Erwartung, vor allem kulturelle Unterschiede im Spiel zu finden, zeigte sich, dass die Gemeinsamkeiten der Spielformen aller Kulturen bei weitem überwiegen! Es gibt weltweit eine (unbekannte) Zahl gemeinsamer Grundmotive, vielleicht ‘Archetypen’ des Spielens: Stein-, Stock-, Faden-, Hüpf-, Lauf-, Tanz-, Ball-, Geschicklichkeits- u. a. Spiele, die z. T. verblüffend ähnlich sind und deren Alter eine Übernahme aus anderen Kulturen sehr unwahrscheinlich macht. So die weltweit gefundene Zahl fünf und parallele Grundformen bei dem klassischen Geschicklichkeitsspiel mit kleinen Knochen bzw. Steinen.


Aus dem Gemälde
Brueghel, Die Kinderspiele

Die Motivation ist auch
heute ungebrochen...


Jases, eine moderne Variante
aus Südamerika

Interessant für das Verständnis der jeweiligen Kulturen sind die Varianten dieser Grundmotive und die selteneren ‘eigenen’ Spielformen der Kulturen. Aus den bisherigen Arbeiten lässt sich die These ableiten, dass Spielen / Spiele ein kulturelles Universal sind, eine Art gemeinsamer Sprache der Menschheit. Hier gilt es weiterzuarbeiten.

Eine Sprache, die vielleicht mehr und mehr verstummt. Die Dokumente zeigen, dass in Regionen materieller Armut spontanes Spiel und damit verbundener Frohsinn, bis hin zu Tanz, Gesang, Dichtung und anderem kreativen Ausdruck einen viel höheren Stellenwert einnehmen als in materiell abgesicherten Industriekulturen. Diese entwickeln differenzierte Kulturleistungen wie Sport, Gesellschaftstanz, Musik, Literatur, Kunst, in denen das Spielelement, die Spontaneität, der Frohsinn, die Kreativität gegenüber dem Übungs- bzw. Trainingscharakter durchaus in den Hintergrund treten können. Das kulturschaffende Spielelement hat sich dann, so auch Huizinga, verflüchtigt.

Die Dokumentation weltweiter Spielkultur erfüllt nach allem also viele Aufgaben: Zuerst fördert sie die Wahrnehmung dieses Menschheits-Kulturerbes. Damit verbunden fördert sie Einsichten in die Bedeutung des Spielens für die körperliche, psychische, kognitive und soziale Entwicklung des Kindes. Schließlich liefert sie einen neuen Zugang zum Verständnis des ‘Fremden’, zum Verstehen, Tolerieren und Entdecken anderer Kulturen.

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