P.
Nicolai Cusani: Christliche Zuchtschul, Lucern 1645
Auch
moderne Industriegesellschaften neigen, so kritisiert Huizinga,
zur Verdrängung spielerisch-schöpferischer Vielfalt.
Kulturelle Institutionen würden ihre (spielerische) Flexibilität,
damit Gestaltungskraft und Entwicklungsfähigkeit verlieren.
Das Spielelement gehe in modernen, erstarrten Institutionen
verloren. Es gelte, Spiel wieder zuzulassen, Kulturleistungen
neu zu entfalten, mit kreativ-spielerischem Querdenken und
fruchtbarem Wettstreit.
Vom
Versäumnis der Forschung
Es ist bis heute kaum bekannt, dass alle Völker intensiv
spielten und spielen, in allen Lebensbereichen - im ‘Alltag’,
der Arbeit, der Gemeinschaft, dem zeremoniellen und kultischen
(auch: religiösen) Leben. Spieldrang, Wettstreit, Spielfreude
in der Gemeinschaft, spielerisch-zeremonielle Handlungen und
‘Spielkulte’ sind Wesensmerkmale aller frühen Weltkulturen.
Diesem Verständnis folgend, wäre Kulturgeschichte auch immer
Geschichte der Spielformen, der Spiel-Kultur.
Weltweit müsste das Thema ‘Kulturgeschichte des Spiels’ in
Forschung, Lehre und öffentlicher Diskussion präsent sein
- aber weit gefehlt! Selbst in der Ethnographie, deren Aufgabe
die Beschreibung indigener Kulturen ist, bleibt Spiel in der
Regel ein Nebenthema.
Es
gibt nach unseren Recherchen keine global orientierte Dokumentationsstelle
der Vielfalt der Spielformen der Völker. Auch kein Netz
von regionalen Initiativen, sondern nur vereinzelte Initiativen
(so um den amerikanischen Spiel-Anthropologen Sutton-Smith).
Es gibt auch keine global orientierte Monographie zur Kulturgeschichte
des Spiels; selbst Monographien über die Spielkultur
einer Ethnie / eines Kulturkreises sind die Ausnahme. Es ist
uns auch kein Schwerpunkt-Forschungsprogramm in diesem Bereich
mit globaler Bedeutung bekannt.
Von
der Erforschung weltweiter Spielkultur...
Wir stehen vor der Aufgabe, Spiel als kulturbildendes
Prinzip in den Kulturleistungen aller Völker entdecken
und erkunden zu sollen - ein Vorhaben, das in seiner Komplexität
und Weite internationale Kooperation erfordert. Diese muss
erst entstehen.
Ein
spontaner Einstieg ist aber möglich: Man kann mit einer
Sammlung / Dokumentation der ‘Oberfläche von Spielkultur’
beginnen, dem Zusammentragen der konkreten ‘Spiele’
der Kulturen. Hier gibt es weltweit Zeugnisse, insb. Zeitschriftenaufsätze
und Passagen in landeskundlich orientierten Monographien,
aber auch Bildmaterial und Erzählungen.
Konkrete
erste Aufgabe ist die Dokumentation der Spielformen in
Kindheit und ‘Jugend’ / Initiationsphase. Kinderspiele
und Initiationsriten bilden Erwachsenenkultur ab, als Spiel-
und Lebensform, sind selbst von Kindern an Kinder weitergegebene
Kultur, und dieses weltweit.
Wir
wissen immer noch wenig von kindlich-spielerischer Eroberung
der Welt, von Kinder-Spielkulturen, von der Identitätsbildung
des Kindes in der (subjektiven) Ernstsituation Spiel, von
der Vielfalt und den Entwicklungsebenen kindlichen Spiels,
von spielerischer Eroberung und Gestaltung der Bewegung, von
der gemeinschaftsbildenden Kraft ‘spielerischer’
Wettkämpfe, von der Gefährdung bzw. dem Abbruch
des Spielens in Industriegesellschaften, von der Technisierung
des Spielzeugs, von der Spielferne schulischer Erziehung...
Konkrete
zweite Aufgabe ist die Dokumentation von Spielformen der
‘Erwachsenen’ - privat, in Arbeit, Fest, Tanz,
zeremoniellen und kultischen Handlungen. Was wissen wir eigentlich
über die kulturelle Vielfalt der Spiele in Familie, Nachbarschaft,
Gemeinde, zu Jahreszeiten und Festtagen, über Spielelemente
in der Arbeit, ihre rhythmischen Traditionen, über Arbeitsgesänge,
vom Spielelement in der motivierten Arbeit, vom modernen Rhythmus
zwischen Arbeit und Privatheit, von der sinnstiftenden Rolle
spielerischer Zeremonien und spielerisch verkleideter kultischer
Akte - begonnen bei den fast immer religiös verkleideten
festlichen Höhepunkten des Gemeinschaftslebens der Völker
bis hin zu modernen, rituellen Handlungen mit Kultcharakter
- Event genannt...
Hier
tritt man ein in die tiefere, die Herausbildung kultureller
Institutionen nachvollziehenden Analyse. Schon die Sprache
offenbart, welche Aufgaben hier schlummern: In fast allen
Lebensbereichen benennen wir ein Spielelement, ohne es genauer
zu würdigen. So bei Sportspielen (sind sie, insbesondere als
Hochleistungssport, Spiel - welches Spiel?), Olympischen Spielen
(was ist Spiel, was sinnstiftender Kultus, was ist starre
Struktur?), Planspielen (insb. im militärischen Bereich),
globalen Spielen - ‘global players’... Immer war
Spiel konstitutives Element der Herausbildung kultureller
Praktiken / Institutionen. Eine Analyse der Art, der Funktion,
des Anteils und der Wandlung des Spielelements in der Kulturentfaltung
steht aus.
...zur Förderung des Spielelements in der Kulturentwicklung
Auch wenn diese tiefere Würdigung von Spiel, begonnen
bei einer Sprachanalyse, vorerst Programm bleiben muss, spricht
das nicht gegen den pragmatischen Einstieg: Die mehr beschreibende
Dokumentation der Vielfalt der ‘Spiele’ der Völker
ist eine längst überfällige kulturwissenschaftliche
Aufgabe. Hier ist ein weisser Fleck auf der Landkarte
der Weltkulturen. In der Bibliothek HOMO LUDENS wurde mit
dem Zusammentragen der (Sekundär-)Quellen begonnen.
Die Arbeiten führten zu einem überraschenden Ergebnis.
Entgegen der Erwartung, vor allem kulturelle Unterschiede
im Spiel zu finden, zeigte sich, dass die Gemeinsamkeiten
der Spielformen aller Kulturen bei weitem überwiegen!
Es gibt weltweit eine (unbekannte) Zahl gemeinsamer Grundmotive,
vielleicht ‘Archetypen’ des Spielens: Stein-, Stock-,
Faden-, Hüpf-, Lauf-, Tanz-, Ball-, Geschicklichkeits-
u. a. Spiele, die z. T. verblüffend ähnlich sind
und deren Alter eine Übernahme aus anderen Kulturen sehr
unwahrscheinlich macht. So die weltweit gefundene Zahl fünf
und parallele Grundformen bei dem klassischen Geschicklichkeitsspiel
mit kleinen Knochen bzw. Steinen.

Aus dem Gemälde
Brueghel, Die Kinderspiele |

Die Motivation ist auch
heute ungebrochen... |

Jases, eine moderne Variante
aus Südamerika |
Interessant
für das Verständnis der jeweiligen Kulturen sind
die Varianten dieser Grundmotive und die selteneren ‘eigenen’
Spielformen der Kulturen. Aus den bisherigen Arbeiten lässt
sich die These ableiten, dass Spielen / Spiele ein kulturelles
Universal sind, eine Art gemeinsamer Sprache der Menschheit.
Hier gilt es weiterzuarbeiten.
Eine
Sprache, die vielleicht mehr und mehr verstummt. Die Dokumente
zeigen, dass in Regionen materieller Armut spontanes Spiel
und damit verbundener Frohsinn, bis hin zu Tanz, Gesang, Dichtung
und anderem kreativen Ausdruck einen viel höheren Stellenwert
einnehmen als in materiell abgesicherten Industriekulturen.
Diese entwickeln differenzierte Kulturleistungen wie Sport,
Gesellschaftstanz, Musik, Literatur, Kunst, in denen das Spielelement,
die Spontaneität, der Frohsinn, die Kreativität
gegenüber dem Übungs- bzw. Trainingscharakter durchaus
in den Hintergrund treten können. Das kulturschaffende
Spielelement hat sich dann, so auch Huizinga, verflüchtigt.
Die Dokumentation weltweiter Spielkultur erfüllt nach allem
also viele Aufgaben: Zuerst fördert sie die Wahrnehmung dieses
Menschheits-Kulturerbes. Damit verbunden fördert sie
Einsichten in die Bedeutung des Spielens für die körperliche,
psychische, kognitive und soziale Entwicklung des Kindes.
Schließlich liefert sie einen neuen Zugang zum
Verständnis des ‘Fremden’, zum Verstehen, Tolerieren und Entdecken
anderer Kulturen.
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